Narziss blickt in den Teich, der Autist in den Abgrund.
Der selbstsüchtige Narziss ist siech vom Selbst: Wohin er auch blickt, bespiegelt er sich nur selbst. Verwehrt bleibt ihm jede Erfahrung des Anderen. Dieser Zwang zum Positiven lässt Negativität gar nicht erst aufkommen. Der andere ist kein Widerstand, sondern Spiegelfläche. Wie die Medusa verhärtet er nur das Ich des Narzissten, der sich selbst darin sieht. Was er am anderen versteht, wird sofort in den eigenen Horizont eingegliedert.
Wie auch sollte die Differenz zum anderen fruchtbar werden, wenn die Distanz zum eigenen Ich schon fehlt? »Das narzisstische Subjekt verschmilzt so sehr mit sich selbst, dass es nicht möglich ist, mit sich zu spielen. Der depressiv gewordene Narziss ertrinkt in seiner grenzenlosen Intimität zu sich« (Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft).
Im Gegensatz zum Narzissten zieht der Autist klare Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen. Der Andere erscheint ihm in seiner ganzen Fremdheit. Die Andersheit erscheint in ihrer Negativität anziehend. Der andere ist ihm nicht Spiegel, sondern faszinierender Abgrund. Die Tiefe ist dunkel; Vertrauen muss haben, wer sich auf sie einlässt.
Das Selbst verliert sich am anderen: »Der Eros gilt dem Anderen im emphatischen Sinne, der sich ins Regime des Ich nicht einholen lässt« (Han, Agonie des Eros). Der andere bleibt unzugänglich, atopisch, und auratisch, nah und fern zugleich. Der Autist ist in sich verhaftet, aber er ist sich auch selbst der andere. Diese Distanz etabliert Bezüge, wo dem Narzissten diese im eigenen Ich verschwimmen.
von Wiebke Schmittner
Manuskripteinreichung
Die Redaktion freut sich über Beiträge in Essayform, die gerne zum Lektorat an autismusjournal@emailn.de geschickt werden können. Sie sollten naturgemäß zum AutismusJournal passende Themen wählen sowie einen Umfang haben, der einem Journalbeitrag entspricht. Ab und an werden auch Lyrik und literarische Kurzprosa Veröffentlichung finden.
Das AutismusJournal versteht sich als Gedankenforum für Reflexionen zum Dasein als Autist. Es richtet sich an alle, die ein Interesse daran haben, zu artikulieren oder zu verstehen, was es heißt, Autist zu sein. Es will thematisch orientierte Einfälle versammeln, die im Horizont autistischer Welterfahrung stehen. Das Journal erscheint online in zwangsloser Folge.
Auch Narziß blickt in den Abgrund. Er merkt es bloß nicht.
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Eben.
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Ein Autist blickt in sich hinein. Manchmal ist da ein Abgrund. Doch lauert der Abgrund, der gierig wartet, nicht oftmals draußen?
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Gut möglich!
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Spannend beschrieben. Ich definiere mich nicht als Autistin, aber ich finde, dass ich autistische Züge habe. Der Fremde als der Abgrund. Mir wird Sprache geschenkt für mein bisheriges Stottern.
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Vielen Dank dafür!
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Ich habe lange in den Abgrund geschaut, doch nicht weil ich im Spektrum bin, sondern weil ich schon seit meinen Teenager-Jahren depressiv bin – mittlerweile ist es nur noch latent und ich spüre den Abgrund „nur“ noch hinter mir.
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Das ist gut!
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Alles nur noch künstlich und selbstdarstellerisch orchestrierter Medien Journalismus ohne jeglich pers.Kommunikation….Psychologie ist eine Pseudowissenschaft ,weil Du bist,was Du nicht bis …..griechisch Person die Maske versus der Mensch der individuell und gersellschaftlich gestaltet….Nun schaut euch unsere Rahmen und Wertegesellschaft an ! ?
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