Fiktive vs. reale Teams
Als Kind mochte ich Fernsehserien mit Teams besonders gerne. Mich hat die Idee fasziniert, dass jeder Einzelne Stärken und Schwächen hat, dass individuelle Schwächen akzeptiert und die individuellen Stärken so gesehen und genutzt werden, dass am Ende ein Ziel nur durch Zusammenarbeit erreicht werden kann. Dieser Teamcharakter zeigte sich zum Beispiel in „Teenage Mutant Ninja Turtles“:
Leonardo: ein natürlicher Anführer, manchmal zu stur und ziemlich egozentrisch.
Raphael: wütend, impulsiv, aber auch der Komiker des Teams.
Michelangelo: sehr kindisch, aber lebenslustig, loyal und stark.
Und mein persönlicher Favorit als Kind, Donatello: der ungeschickte Wissenschaftler.
Ja, sie sind in gewisser Weise stereotyp, aber ich finde die Kernbotschaft wichtig: dass völlig unterschiedliche Charaktere gemeinsam ein funktionierendes Team bilden, ohne ihre Unterschiede zu verspotten und die Stärken des Einzelnen zu betonen. Dieses vielfältige Team arbeitet noch besser, als wenn jede Schildkröte allein arbeiten würde. Sie hat mir wirklich gefallen. Die Idee von diversen Teams. Dieses Muster wurde in fast allen Kinderserien der 80er und 90er Jahre, wie z.B. „Ghostbusters“ oder „Sailor Moon“, wiederholt.
Die erschreckende Erkenntnis kam, wenn man die Fiktion mit der Realität verglich: Die Vielfalt der beliebten Kinderserien war keineswegs realitätsnah. Im wirklichen Leben wurden Konformität und Homogenität als Ideal propagiert. Die Anderen werden ausgeschlossen, gemobbt oder bestenfalls als Maskottchen von oben nach unten geschleppt. Ein ideales Team besteht in Wirklichkeit nur aus „Leonardos“, Menschen, die vorgeben, Leonardo zu sein, Menschen, die Leonardo nachahmen und Menschen, die Leonardo gehorchen … Es gibt keinen Platz für Donatellos Weltbild, Raffaels Art zu sein oder Michelangelos Meinung in realen Teams.
Die Macht der Sprache und des Framings
Bis vor kurzem konzentrierte sich die Psychologie vor allem auf „Schwächen und Defizite“, anstatt bestehende Stärken zu stärken und hervorzuheben. Und auch heute noch, sowohl in der Pädagogik als auch in der Psychologie, ist die eigene und gegenseitige Akzeptanz nicht das Ziel. Stattdessen gibt es Diagnosen, die hauptsächlich auf Defiziten basieren. Selbst mögliche Stärken werden neu definiert, so dass sie nur als Schwächen erscheinen.
Einige der so genannten „Defizite/Schwächen“ des Autismus-Spektrums sind eine Frage der Interpretation, der Definition, des Kontextes. Und die Mehrheit, die Neurotypischen, definieren den Status quo: Was normal ist, ist gut. Bei uns Autisten ist es so, dass alle unsere „Unterschiede“ negativ interpretiert werden, obwohl einige Eigenschaften je nach Standpunkt auch als positiv angesehen werden können.
Als Gedankenexperiment habe ich nun einige typische Persönlichkeitsmerkmale von autistischen und neurotypischen Menschen so umformuliert, dass das Autistische positiver dargestellt wird als das Neurotypische, um die Kraft der Sprache in diesem Zusammenhang zu veranschaulichen. Die folgenden gemeinsamen Merkmale von Neurotypischen sind wissenschaftlich bekannt und werden seit Jahrzehnten erforscht. Ihre Auswirkungen können z.B. zu Kriegen und Mobbing führen. Dennoch werden sie nicht als neurotypische „Defizite“ eingestuft, obwohl sie als solche definiert werden können.
Beispiele für Defizite des durchschnittlichen neurotypischen Menschen
Dies sind häufige negative Eigenschaften neurotypischer Menschen:
• Neurotypische Menschen können von Autoritäten leicht beeinflusst werden – und neigen dazu, der Autorität auch auf gewalttätige und unmoralische Weise zu gehorchen.
• Neurotypische sind auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe angewiesen – sie neigen dazu, andere aktiv auszuschließen, einer Gruppe anzugehören und ihre Individualität aufzugeben.
• Die Gruppenzugehörigkeit führt zu einem starken Ausschlussverhalten, das sogar eine Tendenz auslöst, die eigene Gruppe auf Kosten anderer zu bevorzugen, auch wenn dies bedeutet, dass der Gewinn in der Gruppe geopfert wird.
Diese negativen Tendenzen neurotypischer Menschen wurden im Milgram-Experiment (Milgram, 1963), in Studien zur Gruppenkonformität und Gruppenzwang (Asch, 1951, 1956) und in der Forschung zur Diskriminierung und Ausgrenzung von Nicht-Gruppenmitgliedern (Tajfel, 1970) gezeigt.
Beispiele für Stärken von Autisten
Diese gemeinsamen autistischen Eigenschaften könnten die oben genannten neurotypischen Defizite kompensieren (wenn diese Stärken nicht pathologisiert würden):
• Autisten besitzen ein starkes Moralsystem im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, das nicht leicht durch Gruppenzwang erschüttert wird.
• Sie haben einen hohen Gerechtigkeitssinn und eine hohe Sensibilität für das Leiden anderer.
• Ein weiteres positives Merkmal ist ihre hohe Sensibilität für Stimmungen anderer Menschen.
(Quellen: Garnett, Attwood, Peterson & Kelly, 2013; Markram, & Markram, 2010).
Diese Listen könnten fortgesetzt werden … Traurig ist jedoch, dass unsere gemeinsamen Stärken, wie z.B. ein starkes Moralsystem, das ganz im Sinne von Kant ist, als „Inflexibilität“ stigmatisiert werden, während der für viele neurotypische Menschen charakteristische „blinde Gehorsam“ als normal angesehen wird. Das ist die Kraft der Sprache, die Kraft des Framings … Das ist die Macht der Mehrheit, die definiert, was als Defizit bezeichnet wird und was nicht.
Stärken und Schwächen
Ich wünsche mir eine Welt, in der wir mit unseren Stärken und Schwächen akzeptiert werden. Ich wünsche mir, dass Neurotypische erkennen, dass sie auch Schwächen haben, die einige von uns Autisten gut ergänzen könnten, wenn wir in Teams aufgenommen würden. Ich denke, wenn die Menschen den Autisten mehr zuhören würden, könnten wir gemeinsam eine bessere Welt schaffen.
Ich will keine Welt von Leonardos, in der die Donatellos, Raffaels und Michelangelos ausgeschlossen sind. Ich wünsche mir unterschiedliche, heterogene und respektvolle Teams, in denen individuelle Schwächen und Stärken reflektiert und akzeptiert werden. Weil wir alle Stärken und Schwächen haben. Aber leider vergessen neurotypische Menschen allzu oft ihre Schwächen und achten nicht auf die Stärken der neurodiversen Menschen. Sie scheinen nicht zu verstehen, wie Teams funktionieren sollen.
von Nihilivonne
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Bild: Pixabay, Reimund Bertrams
Quellen
Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgment. In H. Guetzkow (ed.) Groups, leadership and men. Pittsburgh, PA: Carnegie Press.
Asch, S. E. (1956). Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs, 70(9), 1–70.
Garnett, M. S., Attwood, T., Peterson, C., & Kelly, A. B. (2013). Autism spectrum conditions among children and adolescents: A new profiling tool. Australian Journal of Psychology, 65(4), 206–213. doi: 10.1111/ajpy.12022
Kant, I. (2004). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Markram, K., & Markram, H. (2010). The Intense World Theory: A unifying theory of the neurobiology of autism. Frontiers in Human Neuroscience, 4. doi: 10.3389/fnhum.2010.00224
Milgram, Stanley (1963). Behavioral Study of Obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology. 67(4), 371–8. doi: 10.1037/h0040525
Tajfel, H. (1970). Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223, 96–102.