Cambridge: Im Elfenbeinturm draußen (3)

Gwen Raverat: Period Piece. A Cambridge Childhood

I think I was about six years old when it happened. It was on a Sunday afternoon in early summer. There had been people to luncheon, and now they were all sitting under the medlar tree on the Little Island. Presently I left them and came in and went up to the night-nursery—the long, big, old night-nursery, with the wavy floor, and the great window at the end, which looked right down on the river beneath. The medlar tree was just opposite on the other bank, and I could see bits of the ladies‘ summer dresses through the leaves, and hear their voices and those of the men, in a pattern of light and dark, with sometimes a laugh, all gay and self-conscious and sociable. The sun was shining and the river was flowing smoothly down, with the tiny noise that you could only hear if you listened for it.

And then, with the sun shining, it began to rain. Not much, but a few big drops falling splash, splash, on the green lilac leaves. And suddenly the world stood still. It simply stopped, and I was quite alone and outside. I did not belong, I was separate, just looking on; outside.

With the next beat of my heart, the world went on again, and everything was quite usual and ordinary. Only I had been outside. This was the first time this happened to me, and I was much shaken and frightened, afterwards it happened often, and I grew used to it. But it was always terrifying and lonely, and seemed to point the contrast between ME and all those other friendly people, who sat there talking under the trees.

von Anonymous

Lyrik 4: zweite welten

In einer andern welt
da liefen wir hand in hand
in einer andern welt
da lief überhaupt alles prima
du weisst schon:
so mit sonnenschein und grasgeflüster

mit sommerstunden in denen
wir schwimmen in blauem licht
in denen wir uns nicht kümmern
um individualität und um zeugnisse
und um lebensläufe in denen
das leben uns überholt

Was helfen unsere reden
über die adria und warme felsen:
der graue himmel suppt gegen die fenster
und an den tassen halten wir uns fest
wo die hände sich über den tisch
hin treiben lassen wollen –

in einer andern welt
was würden wir hinter uns lassen:
die vernunft auf ihre alten tage
wird auch nur grauer
und ihre alte tante zukunft
streut salz in unsre augen

von Anonymous

Manuskripteinreichung

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Die Redaktion freut sich über Beiträge in Essayform, die gerne zum Lektorat an autismusjournal@emailn.de geschickt werden können. Sie sollten naturgemäß zum AutismusJournal passende Themen wählen sowie einen Umfang haben, der einem Journalbeitrag entspricht. Ab und an werden auch Lyrik und literarische Kurzprosa Veröffentlichung finden.

Das AutismusJournal versteht sich als Gedankenforum für Reflexionen zum Dasein als Autist. Es richtet sich an alle, die ein Interesse daran haben, zu artikulieren oder zu verstehen, was es heißt, Autist zu sein. Es will thematisch orientierte Einfälle versammeln, die im Horizont autistischer Welterfahrung stehen. Das Journal erscheint online in zwangsloser Folge.

Nähe

Fern, so nahe die Welt auch sein mag.

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Will man in der Welt daheim sein, bedarf es der Berührung. Erst durch sanften Widerstand fühlt man sich wohl in seiner Haut. Das gilt auch für den Autisten. Er will berühren, wenn er liebt, er will berührt werden von dem, den er liebt. Alles konzentriert sich im selbstvergessenen Licht. Angst und Anspannung verlieren sich im Flow –

Oxytocin spielt eine wichtige Rolle im Theater der Sinne und seines Nachspiels. Das Neuropeptid wird im Hypothalamus gebildet, es fördert Empathie und Vertrauen: zwischen Mutter und Kind oder zwischen Partnern und allgemein in sozialen Beziehungen die Bindungen. Emotionen und Lust werden gestärkt, Angst reduziert. Berührung, aber auch emotionale Zuwendung regen die Ausschüttung von Oxytocin an und fördern zugleich weiter empathisches Verhalten.

Eine Vielzahl von Studien hat eine mögliche Wirkung auf autistisches Verhalten untersucht. Während einige Studien unter Laborbedingungen beobachtet haben, dass Sozialkontakte durch Oxytocin positiver empfunden werden, haben andere Studien durch Gabe von Oxytocin keine oder kaum messbare Veränderungen festgestellt. In Deutschland ist es daher auch nicht zur Behandlung zugelassen.

Was hilft, heilt. Intimität versöhnt mit der eigenen widerspenstigen Existenz, die Welt liegt weicher da; Nähe nicht als Gefahr, sondern als Erlösung. In diesen Augenblicken ist das dem Autisten möglich. Die Nähe, wo sonst unerträgliche Ferne herrscht, gibt Kraft und Zuversicht. Das Fehlen aber ist Qual, Haltlosigkeit, Untergang. Alles entgleitet, der Kopf ist lahm und taub.

von Anonymous

Autismus und Angst.

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Die Angst lebt im Autisten.

Wenn Angst in Panik umschlägt, wird das Handeln irrational. Während Furcht sich noch auf einen bestimmten Gegenstand richtet, ist die Angst diffuser, sie breitet sich in der Welt aus. Einer konkreten Furcht lässt sich leichter begegnen als der abstrakten Angst. Das autistische Gehirn weist eine Hyperbelastung der Amygdala auf, mit der Folge, dass Situationen ihm Angst bereiten, die für andere eher als angenehm empfunden werden: soziale Begegnungen, volle Räume etc. Solche Kontexte führen zu Schwindel, zu dem Gefühl von Kontrollverlust, zu Erstarrung und Rückzug. Dieser Stress wird in der Folge vermieden.

Ängste und Zwänge sind eng verbunden: Repetitive Handlungsmuster sollen der Angst entgegenwirken, indem sie eine Art von Kontrolle der Umwelt darstellen: Ist der Herd ausgeschaltet, die Tür verschlossen, ist alles noch an seinem Platz? Für den Autisten ist es auch schwer, existentielle Ängste zu verdrängen: Wann und wie sterbe ich, oder die Menschen um mich herum? Werde ich krank, werde ich meine Wohnung verlieren, mein Geld? Wird mir der Himmel auf den Kopf fallen?

Gerät das Leben, wie in der gegenwärtigen Krise, aus den Fugen, steigt das allgemeine Angstlevel im Haushalt der Psyche. Es ist ein Schock, wie schmerzhaft und unleugbar einem vor Augen geführt wird, wie schnell einem die Kontrolle entgleiten kann. Als würde sich das Herz zusammenkrampfen. – Und doch gibt es auch diese Augenblicke, die irgendwie leichter sind, wo man durchatmet, wie um Ruhe zu schöpfen, wo man sich leichter fühlt, gewappnet und mutig, dem zu begegnen, was immer da kommen mag.

von Anonymous

Kleine Begriffserklärung: Narzisse, Narzisst, Nazist – und Autist

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Für alle, denen unklar ist, wie man eine Narzisse, einen Narzissten, einen Nazisten und einen Autisten unterscheidet, hier der ultimative Guide.

Die bekannteste Narzisse ist wohl die Narcissus pseudonarcissus, die Osterglocke, die im Frühling gelb aus dem Boden sprießt. Es handelt sich um eine unschuldige Blume, wenngleich sie Toxine enthält, die aber nichts für ihren Namen kann, und weder mit dem Narzissten, dem Nazisten oder dem Autisten wesenhaft verbunden ist.

Der Narzisst kam über einen alten Mythos zu seinem Namen: Der römische Dichter Ovid erzählt von dem überaus schönen Jüngling Narziss, in den sich die Nymphe Echo verliebt. Narziss aber verspottet sie, wofür er von Aphrodite bestraft wird, indem er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Als er einmal an einem See sein Spiegelbild betrachtet, fällt durch göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser, die so erzeugten Wellen verzerren sein Spiegelbild. Narziss hält sich plötzlich für hässlich und stirbt. Nach seinem Tod wird er in eine Narzisse verwandelt.

Ein Narzisst ist jemand, der umgangssprachlich an Narzissmus leidet oder fachsprachlich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) zeichnet sich durch einen Mangel an Empathie, durch Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung aus. Narzissten wollen imponieren und bewundert werden, sind aber selbst wenig empathisch. Sie erhöhen den eigenen Selbstwert auf Kosten anderer.

Nur eingeschränkt können Narzissten sich mit den Gefühlen und Bedürfnisse anderer Personen identifizieren; sie richten sich in übertriebener Art und Weise auf die Reaktionen anderer aus, aber nur, wenn diese wichtig für die eigene Person sind. Narzissten neigen zu Hochstapelei, sind leicht kränkbar und neigen zu Wutanfällen. Sie sind herablassend und suchen nach Aufmerksamkeit. Manche Narzissten verüben emotionalen Missbrauch, um narzisstische Bestätigung zu erlangen. Gezielt werden Menschen umworben, um Bestätigung zu erlangen, nur um die Beziehungen dann fallen zu lassen, wenn die Bestätigung versiegt.

Ein Nazist ist ein Nationalsozialist, eine häßliche Unkrautwucherung, die alles Leben erstickt und daher bekämpft werden muss. Er ist narzisstisch und unsicher. Wahrscheinlich kaut er auch Narzissen. Autisten sind für ihn unwertes Leben, wie das meiste andere um ihn herum auch. Der Nazist ist nicht der Rede wert.

Autisten sind selbstbezogen, aus Schutz vor der Reiz- und Informationsflut ihrer Umwelt. Sie nehmen die sinnliche Welt und die Gefühle anderer intensiv wahr. So intensiv, dass es ihnen schwerfällt, angemessen zu reagieren. Eine Osterglocke ist eine Sensation, Nazisten zum Heulen. Narzissten sind sogleich durchschaut. Der Autist kann sich und andere realistisch einschätzen. Differenzen sind nicht Grenzen.

von Anonymous

 

Manuskripteinreichung

Die Redaktion freut sich über Beiträge in Essayform, die gerne zum Lektorat an autismusjournal@emailn.de geschickt werden können. Sie sollten naturgemäß zum AutismusJournal passende Themen wählen sowie einen Umfang haben, der einem Journalbeitrag entspricht. Ab und an werden auch Lyrik und literarische Kurzprosa Veröffentlichung finden.

Das AutismusJournal versteht sich als Gedankenforum für Reflexionen zum Dasein als Autist. Es richtet sich an alle, die ein Interesse daran haben, zu artikulieren oder zu verstehen, was es heißt, Autist zu sein. Es will thematisch orientierte Einfälle versammeln, die im Horizont autistischer Welterfahrung stehen. Das Journal erscheint online in zwangsloser Folge.

 

Replik: Gibt es eine „Kultur des Autismus?

Nein, nicht im Sinne einer ausgeprägten Kultur.

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Gibt es eine „Kultur des Autismus?“, also eine gemeinsame, soziologische Basis? Ich meine: Nein, nicht im Sinne einer ausgeprägten Kultur. Autisten haben unterschiedliche Wertevorstellungen, unterschiedliche Biographien und Prägungen, welche sich in vielen Bereichen zeigen, beispielsweise der Sprache. Manche Autisten bevorzugen scheinbar unordentliche Stadtwohnungen, für andere wäre das Leben in der Stadt eine Quälerei. Auch der Geschmack in Kunst und Musik ist sicher different. Jedoch gibt es Gemeinsamkeiten unter Autisten. Im Folgenden beschreibe ich die von mir beobachteten Gemeinsamkeiten. Damit gehe ich nur begrenzt auf Diagnosekriterien, als auf eine Inside-View ein.

Diese Gemeinsamkeiten entstehen durch das Bewusstsein, in bestimmten Punkten auf konkrete Art anders zu sein. Konstruktivistisch betrachtet, spielt sicher auch das Faktum mit hinein, dass ein einheitliches Signal der Gesellschaft, welche Autismus als Spektrumstörung in den Bereich der Krankheiten einordnet, auch eine homogene Gegenreaktion provoziert. Ich kenne persönlich nicht einen einzigen Autisten, der vom Autismus als Krankheit berichtet, sondern als Andersartigkeit. Aus Sicht eines Autisten ist er ja normal, er kennt sich nicht anders. Und die überwältigende Mehrheit der Probleme, wenn nicht ihre Gesamtheit, entsteht erst in der Interaktion mit der Umwelt. Als Beispiel sei hierfür die Reizüberflutung („Overload“) genannt.

Daher gibt es recht einheitlich die Ansicht: Wir sind anders. Jedoch entwickeln sich bei jedem Autisten ausgehend von diesem Punkt unterschiedliche Tendenzpfade. Während ich mich für die Welt und meine Mitmenschen im Besonderen fasziniere (ähnlich wie Touristen in einem fremden Land), so gibt es auch viele Autisten, die lieber auf Distanz zu der Welt als Gegenstand gehen, der für sie gänzlich unberechenbar ist und wir wissen, dass wir andere Menschen niemals so verstehen oder nachvollziehen können, wie Nichtautisten.

Die meisten Autisten, die ich kenne, identifizieren sich mit dem Autismus. Es ist eine von Geburt an vorhandene, höchstwahrscheinlich genetische Andersartigkeit, um die herum sich eine Persönlichkeit aufbaut. Dies lässt eine Identifikation mit der Basis des eigenen Selbst zu und bedingt Unverständnis, wenn diese Normalität von anderen als „krankhaft“ bezeichnet wird. Ich zitiere eine andere Autistin: „Ich habe ja keinen Autismus. Ich bin Autismus.“ Diese enge Verbundenheit finde ich bei den allermeisten Autisten.
Sie bedingt, zusammen mit den unausweichlichen „clashes“, wo die autistische Natur auf die nichtautistische (von manchen als allistische) Umwelt trifft, ein großes Durchhaltevermögen, welches von außen zuweilen als Verbissenheit oder sogar Sturheit wahrgenommen wird. Ich selbst kenne keinen Autisten, der von seinem Autismus weiß, und dennoch anstrebt, den Autismus zu Gunsten der „durchschnittlichen Normalität“ oder für andere Menschen zu überwinden.

Eine weitere von mir beobachtete Gemeinsamkeit, ist die Kompensation. Autismus wird als Entwicklungsstörung klassifiziert, da die Gefühle auf dem Niveau eines Kindes entwickelt bleiben. Die dadurch unterentwickelten Fähigkeiten, werden oftmals schon allein durch eine (begrenzte) Notwendigkeit der Adaption vom Verstand ausgeglichen. Zumindest soweit möglich. Da Autisten beispielsweise oft die Fähigkeit fehlt, Worte und Paraphrasen nach dem Gefühl auf ihre Metaebenen zu untersuchen (Beispiel: Ist Flucht negativ, positiv oder neutral zu werten? Warum?), drücken sie sich in der Regel sehr direkt, wörtlich und präzise aus. In der „autistic community“, wenn ich sie als solche bezeichnen darf, wird diese Form der Kommunikation sehr geschätzt, da sie einfach, unmissverständlich und effektiv ist, während man damit andere jedoch oft „überfährt“ oder „mit der Tür ins Haus fällt“ (gemäß erhaltener Rückmeldungen).

Spezielle Dialekte, Filmvorlieben oder Religionen kann ich nicht als Gemeinsamkeiten erkennen und führe sie auf die entwickelten Persönlichkeiten, soziale Prägung und Interaktionserfahrungen mit dem Umfeld zurück. Was Autisten generell nervt ist eigentlich das, was ich hier tue: Generalisierung. Darum auch meine Betonung, dass ich hier nicht von allen Autisten und nur aus meiner Sicht berichte, da es eine gefährliche Uniformitätsvorstellung befeuert, die Vorurteilen freie Bahnen schaffen. Und genau diese nerven, da es im besten Falle nur Ausdrücke von fehlerhaften Informationen und Vorstellungen, im schlimmsten Falle Überheblichkeit über dem „behinderten“ Autisten ist oder Arroganz der sich selbst als „normal“ zum „krankhaften“ Autismus abgrenzenden Gesellschaft(steile). Begrüßt wird der offene, informative Diskurs.

Bereits angesprochen habe ich das Bewusstsein um die unausweichlichen „Clashes“ und das daraus resultierende Durchhaltevermögen. Ergänzen möchte ich eine Art von „optimistischem Fatalismus“: Diese Clashes sind unausweichlich, doch die eigene Andersartigkeit gehört zu einem, also gehören diese Clashes zum eigenen Leben dazu. Sie werden i. d. R. nicht per se angestrebt, sondern sind schlicht eine logische Konsequenz und zu einem gewissen Maße sogar Ausdruck von Selbstachtung (ungefähr ähnlich dem jeden Menschen bekannten Streit).

Zusammenfassend gibt es aus meiner Sicht keine ausgeprägte autistische Kultur, jedoch ein von den meisten Autisten geteiltes Mindset und dadurch immer wieder bemerkbare Gleichheiten in Ausdrücken des Bewusstseins, der Identifikation, der Einstellung zu Autismus und Umwelt.

Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich diesen Text spontan verfasst habe und er somit nicht als geplante oder gar empirisch überprüfte Arbeit zu werten ist. Eine empirische Studie dazu anzuregen wäre jedoch eine faszinierende Idee.

Von Iustin Weigele, exilereports.home.blog

Gibt es eine Kultur des Autismus?

Ein Aufruf.

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Klaus Kokemoor spricht in Autismus neu verstehen (Munderfing 2016) eine interessante Frage an, die „Begegnung mit einer anderen Kultur“, wie der Untertitel lautet: Ist der Autist das „Kind einer anderen Kultur“, hat er ein anderes Bewusstsein? Gibt es, bei aller Individualität, eine „gewisse Übereinstimmung“ zwischen Autisten?

Man ist leicht versucht, die Frage mit Ja zu beantworten. Doch was heißt dann „Kultur“, was heißt „Autismus“? Was sind die Konsequenzen dieser Annahme? Braucht es zwischen Autisten und Neurotypischen eine interkulturelle Kompetenz? Ist der Unterschied derart, dass man von verschiedenen Kulturen reden kann? Kann es überhaupt so etwas wie eine Kultur des Autismus geben?

In anderen Worten: Gibt es ein Set von Verhaltensweisen, die Autisten teilen, die sich abheben von denen der Neurotypischen? Interessen, Normen, Sichtweisen, die allen Autisten spezifisch gemeinsam sind? Lassen sich Möglichkeiten und Unmöglichkeiten identifizieren, bedingt durch die neuronale Disposition, die diesen Differenzen zugrunde liegen? Was ist dem Autisten unmöglich, aber auch: was ist gerade ihm möglich?

Das „Bild einer Art kultureller Übereinstimmung“ speist sich daraus, dass das Verhalten des Autisten sich, in Abgrenzung zu Neurotypischen, aus anderen Lustquellen, einer anderen Logik speist. Was dem einen funktional ist, kann dem anderen dysfunktional sein und vice versa. Jeder hat eine andere Überlebensstrategie, z.B. Blickkontakt aufrechtzuerhalten, ist für den Neurotypischen funktional, um etwa emotionale Nähe herzustellen, für den Autisten aber ist das Vermeiden funktional, da die Amygdala ansonsten auf die Reizüberflutung hin überreagiert.

Der Autismus selbst ist unsichtbar, was sichtbar ist, sind die Bewältigungsstrategien, die Sprache und Verhalten bestimmen: Die Rückversicherung am eigenen Körper, an festen Strukturen, die Orientierung am Detail, sie reagieren alle auf das Problem des fehlenden ganzheitlichen Eindrucks, der die neurotypische Wahrnehmung bestimmt. Eine andere Wahrnehmung aber, ein anderes Denken benötigt die Übersetzungstätigkeit von einer Kultur in die andere.

Entsteht dadurch aber eine eigene Lebenswelt des Autismus, die daraus besteht, was innerhalb dieser Gruppe von Menschen als normal, relevant und plausibel gilt? Lässt sich der Kulturbegriff des offenen Netzwerks mit unscharfen Rändern anwenden, in dem Mehrwertigkeit in dem Sinne herrscht, dass die Identität des Einzelnen im Fluss ist, der gleichzeitig verschiedenen, auch widersprüchlichen Lebenswelten zugehören kann? Und wie sieht das konkret aus?

Welche Musik hören, welche Serien sehen wir?
Worin spiegeln wir uns?
Haben wir einen Dialekt, eine bestimmte Art zu reden?
Kleidung, wie ziehen wir uns an?
Wie wohnen wir?
Was glauben wir? Sind wir religiös?
Wofür geben wir Geld aus?
Was arbeiten wir?
Was ist uns wichtig?
Was verabscheuen wir?
Wie reisen wir?
Was nervt uns?

Welche Fragen lassen sich sinnvoll stellen, um das zu ergründen, was eine „Kultur des Autismus“ ausmachen könnte?

Die Redaktion freut sich über Gedanken, die an autismusjournal@emailn.de geschickt werden können.

von Irene Beck

 

Teamgeist

Fiktive vs. reale Teams

Pixabay_ Reimund Bertrams

Als Kind mochte ich Fernsehserien mit Teams besonders gerne. Mich hat die Idee fasziniert, dass jeder Einzelne Stärken und Schwächen hat, dass individuelle Schwächen akzeptiert und die individuellen Stärken so gesehen und genutzt werden, dass am Ende ein Ziel nur durch Zusammenarbeit erreicht werden kann. Dieser Teamcharakter zeigte sich zum Beispiel in „Teenage Mutant Ninja Turtles“:

Leonardo: ein natürlicher Anführer, manchmal zu stur und ziemlich egozentrisch.
Raphael: wütend, impulsiv, aber auch der Komiker des Teams.
Michelangelo: sehr kindisch, aber lebenslustig, loyal und stark.
Und mein persönlicher Favorit als Kind, Donatello: der ungeschickte Wissenschaftler.

Ja, sie sind in gewisser Weise stereotyp, aber ich finde die Kernbotschaft wichtig: dass völlig unterschiedliche Charaktere gemeinsam ein funktionierendes Team bilden, ohne ihre Unterschiede zu verspotten und die Stärken des Einzelnen zu betonen. Dieses vielfältige Team arbeitet noch besser, als wenn jede Schildkröte allein arbeiten würde. Sie hat mir wirklich gefallen. Die Idee von diversen Teams. Dieses Muster wurde in fast allen Kinderserien der 80er und 90er Jahre, wie z.B. „Ghostbusters“ oder „Sailor Moon“, wiederholt.

Die erschreckende Erkenntnis kam, wenn man die Fiktion mit der Realität verglich: Die Vielfalt der beliebten Kinderserien war keineswegs realitätsnah. Im wirklichen Leben wurden Konformität und Homogenität als Ideal propagiert. Die Anderen werden ausgeschlossen, gemobbt oder bestenfalls als Maskottchen von oben nach unten geschleppt. Ein ideales Team besteht in Wirklichkeit nur aus „Leonardos“, Menschen, die vorgeben, Leonardo zu sein, Menschen, die Leonardo nachahmen und Menschen, die Leonardo gehorchen … Es gibt keinen Platz für Donatellos Weltbild, Raffaels Art zu sein oder Michelangelos Meinung in realen Teams.

Die Macht der Sprache und des Framings

Bis vor kurzem konzentrierte sich die Psychologie vor allem auf „Schwächen und Defizite“, anstatt bestehende Stärken zu stärken und hervorzuheben. Und auch heute noch, sowohl in der Pädagogik als auch in der Psychologie, ist die eigene und gegenseitige Akzeptanz nicht das Ziel. Stattdessen gibt es Diagnosen, die hauptsächlich auf Defiziten basieren. Selbst mögliche Stärken werden neu definiert, so dass sie nur als Schwächen erscheinen.

Einige der so genannten „Defizite/Schwächen“ des Autismus-Spektrums sind eine Frage der Interpretation, der Definition, des Kontextes. Und die Mehrheit, die Neurotypischen, definieren den Status quo: Was normal ist, ist gut. Bei uns Autisten ist es so, dass alle unsere „Unterschiede“ negativ interpretiert werden, obwohl einige Eigenschaften je nach Standpunkt auch als positiv angesehen werden können.

Als Gedankenexperiment habe ich nun einige typische Persönlichkeitsmerkmale von autistischen und neurotypischen Menschen so umformuliert, dass das Autistische positiver dargestellt wird als das Neurotypische, um die Kraft der Sprache in diesem Zusammenhang zu veranschaulichen. Die folgenden gemeinsamen Merkmale von Neurotypischen sind wissenschaftlich bekannt und werden seit Jahrzehnten erforscht. Ihre Auswirkungen können z.B. zu Kriegen und Mobbing führen. Dennoch werden sie nicht als neurotypische „Defizite“ eingestuft, obwohl sie als solche definiert werden können.

Beispiele für Defizite des durchschnittlichen neurotypischen Menschen

Dies sind häufige negative Eigenschaften neurotypischer Menschen:

• Neurotypische Menschen können von Autoritäten leicht beeinflusst werden – und neigen dazu, der Autorität auch auf gewalttätige und unmoralische Weise zu gehorchen.
• Neurotypische sind auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe angewiesen – sie neigen dazu, andere aktiv auszuschließen, einer Gruppe anzugehören und ihre Individualität aufzugeben.
• Die Gruppenzugehörigkeit führt zu einem starken Ausschlussverhalten, das sogar eine Tendenz auslöst, die eigene Gruppe auf Kosten anderer zu bevorzugen, auch wenn dies bedeutet, dass der Gewinn in der Gruppe geopfert wird.

Diese negativen Tendenzen neurotypischer Menschen wurden im Milgram-Experiment (Milgram, 1963), in Studien zur Gruppenkonformität und Gruppenzwang (Asch, 1951, 1956) und in der Forschung zur Diskriminierung und Ausgrenzung von Nicht-Gruppenmitgliedern (Tajfel, 1970) gezeigt.

Beispiele für Stärken von Autisten

Diese gemeinsamen autistischen Eigenschaften könnten die oben genannten neurotypischen Defizite kompensieren (wenn diese Stärken nicht pathologisiert würden):

• Autisten besitzen ein starkes Moralsystem im Sinne von Kants kategorischem Imperativ, das nicht leicht durch Gruppenzwang erschüttert wird.
• Sie haben einen hohen Gerechtigkeitssinn und eine hohe Sensibilität für das Leiden anderer.
• Ein weiteres positives Merkmal ist ihre hohe Sensibilität für Stimmungen anderer Menschen.
(Quellen: Garnett, Attwood, Peterson & Kelly, 2013; Markram, & Markram, 2010).

Diese Listen könnten fortgesetzt werden … Traurig ist jedoch, dass unsere gemeinsamen Stärken, wie z.B. ein starkes Moralsystem, das ganz im Sinne von Kant ist, als „Inflexibilität“ stigmatisiert werden, während der für viele neurotypische Menschen charakteristische „blinde Gehorsam“ als normal angesehen wird. Das ist die Kraft der Sprache, die Kraft des Framings … Das ist die Macht der Mehrheit, die definiert, was als Defizit bezeichnet wird und was nicht.

Stärken und Schwächen

Ich wünsche mir eine Welt, in der wir mit unseren Stärken und Schwächen akzeptiert werden. Ich wünsche mir, dass Neurotypische erkennen, dass sie auch Schwächen haben, die einige von uns Autisten gut ergänzen könnten, wenn wir in Teams aufgenommen würden. Ich denke, wenn die Menschen den Autisten mehr zuhören würden, könnten wir gemeinsam eine bessere Welt schaffen.
Ich will keine Welt von Leonardos, in der die Donatellos, Raffaels und Michelangelos ausgeschlossen sind. Ich wünsche mir unterschiedliche, heterogene und respektvolle Teams, in denen individuelle Schwächen und Stärken reflektiert und akzeptiert werden. Weil wir alle Stärken und Schwächen haben. Aber leider vergessen neurotypische Menschen allzu oft ihre Schwächen und achten nicht auf die Stärken der neurodiversen Menschen. Sie scheinen nicht zu verstehen, wie Teams funktionieren sollen.

von Nihilivonne

https://www.nihilivonne.com/
https://spectralness.wordpress.com/
Bild: Pixabay, Reimund Bertrams

Quellen

Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgment. In H. Guetzkow (ed.) Groups, leadership and men. Pittsburgh, PA: Carnegie Press.

Asch, S. E. (1956). Studies of independence and conformity: I. A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs, 70(9), 1–70.

Garnett, M. S., Attwood, T., Peterson, C., & Kelly, A. B. (2013). Autism spectrum conditions among children and adolescents: A new profiling tool. Australian Journal of Psychology, 65(4), 206–213. doi: 10.1111/ajpy.12022

Kant, I. (2004). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Markram, K., & Markram, H. (2010). The Intense World Theory: A unifying theory of the neurobiology of autism. Frontiers in Human Neuroscience, 4. doi: 10.3389/fnhum.2010.00224

Milgram, Stanley (1963). Behavioral Study of Obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology. 67(4), 371–8. doi: 10.1037/h0040525

Tajfel, H. (1970). Experiments in intergroup discrimination. Scientific American, 223, 96–102.

Lyrik 3: Schnee riecht …

Ein metaphorisches Gedicht

Ich riech den Schnee er riecht nach Dorf ganz vertraut nach Haus und Hof.
Nach Kindheit riecht er recht vertraut: süß und bitter
frisch und muffig
gut gewürzt und schal zugleich.

Er riecht nach Schule Bohnerwachs
Kreide, Tafelschwamm ganz nass.
Nach Pipi auch nach Schulbuchdunst,
Fußschweiß riech ich, ungewaschner Hals und Ohrenschmalz.

Er riecht nach Kuhstall süßlich scharf und stechend, nach warmer frischer Milch erst rahmig süß und später sauer.

Nach Kirchgang riecht er unverdrossen
Mottenpulver Schweiß und Seife,
Witwentracht und Tannengrün,
nach Kerzenduft und nach Gesangbuch.

Nach warmem Blute riecht er
und nach dem Dunst vom den Gedärmen
der dampfend aus dem Leib von Schweinen, sich süßlich mischt mit feisten Wurstgerüchen die brodelnd aus dem Kessel wabern.

von Armin Herzberger
http://arminherzberger.com/2015/10/15/schnee-riecht/